Montag, 18. Februar 2019

Nicht-menschliche Aktanten im Büro - Die Disziplin der Süßwaren (AS01)

In der, der Praxistheorie nahestehenden Akteur-Netzwerk-Theorie sind es nicht nur Menschen die zum aktiven Handeln fähig sind. Auch nicht-menschliche Dinge können in einer konkreten Situation Handlungen evozieren. Also nicht nur der Mensch kann den Computer anschalten, sondern dadurch, dass der Computer einen roten Knopf hat, durch den er sich anschalten lässt, fordert er auch dazu auf, ihn anzuschalten. Und dann muss man sich so davorsetzen, wie der Computer es will, denn wenn man das nicht tut, sich etwa mit dem Rücken zu Bildschirm setzt, dann wird das nichts, mit dem Textschreiben oder dem You-Tube-Videos gucken. Den Computer lässt das wie eine Primadonna kalt. Aber der Mensch, ja, der Mensch wird sich zu ihm umdrehen. 

Hier im Büro gibt es noch ganz andere nicht-menschliche Aktanten. Süße Waren, die mich - so liest man immerzu - zu disziplinlosem Naschen verleiten würden und mich direkt in die Falle der Fettsucht zu treiben gedenken. Doch ich beobachte sogar das Gegenteil!

Sie zwingen mich zur Selbstdisziplin! Mehrfach! Sie führen dazu, dass ich mich stundenlang zusammenreißen muss. Denn in der Mittagspause - ja, so brainwashed bin auch ich vom Diskurs über vollwertige Ernährung - soll etwas Vernünftiges gegessen werden (also heute indisches Mango-Chicken mit Reis und Salat). Ohne dieses Naschwerk, wäre mir der verinnerlichte Disziplinierungsapparat gar nicht bewusst! (Manchmal bestrafe ich die Kekse dann, indem ich sie in die Schublade verbanne, die als weiterer Aktant, neben verschwörerisch halb offen steht)

Erst danach, in der Nachmittagsarbeitszeit, erlaube ich mir, diesen aufdringlichen Verführerinnen nachzugeben und hemmungslos alles aus den Packungen zu angeln, zu fischen, zu fummeln, was ich ergattern kann - und solange es mir schmeckt. Doch auch dabei muss ich mich - ich bin ja nicht allein im Büro - selbstverständlich diszplinieren! Der Körper will sich vielleicht ekstatisch zum Krümmelmonster mutieren, all die Papiere, Aufgaben und Polohemden, auf denen Spuren nur allzu sichtbar zurückbleiben würden, vergessen. Doch die sozialen Manieren! Die kultivierte Sozialität!

Also: es kann nur mit halber Kraft gekrümelt werden, das Schmatzen wird unterdrückt, mehr innerlich als äußerlich vor Genuss geseufzt.

Ja, diese nicht-menschlichen Aktanten wecken gleichzeitig den vorzivilisierten Genusshunger in einem, wie sie einen gleichzeitig auch an die strengen Rollenkontrollen des modernen Büros zurückverweisen. 

Am Ende bleibt ein gefüllter Bauch, ein runder Schokoladengeschmack im Mund und natürlich ein Schokoladenfleck auf Seite 84 des Ausdrucks über Praxistheorie, der sich auch nicht mehr wegwischen lässt. Eine Spur, eine Erinnerung an zwanzig lustvolle Minuten im Büro, an eine von langer Konsumentenhand geplante Spontanversammlung von Aktanten, von denen sich nun "Keks" und "Goldbären" verabschiedet haben und zu einem Teil des menschlichen Akteurs geworden sind.




Literatur:

Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandorra. Suhrkamp.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen