Donnerstag, 21. Februar 2019

Funktionale Verklärungen (AS 04)

Jeder weiß, dass Säbelrasseln zum Geschäft gehört (nur zu welchem eigentlich?). Ebenfalls zum alltäglichen Geschäft gehören Verklärungen. Die Soziologie, ganz im Sinne der Aufklärung unterwegs, versucht - oder versuchte - lange Zeit, die Verklärungen zu entzaubern. Dahinter sollte dann die reale Realität, die ungeklärte zum Vorschein kommen. In der realen Realität musste man jedoch feststellen, hinter der Verklärung lauerte nur zwei weitere Verklärungen. Und hinter denen wieder vier Verklärungen. Und so weiter. Die Entzauberung der Welt von Verklärungen entpuppte sich selbst als Verklärung. Wie man mit dieser Verklärungskaskade umgehen soll ist umstritten. Die einen flüchten sich auf die Insel der Beliebigkeit, diejenigen, die sich irgendwo moralisch infiziert haben, erklären einfach irgendeine fettige Verklärung, an der sie sich besudelt haben, zur ultimativen Verklärung und wollen, dass alle dieselbe Verklärung verklären. Ein drittes Milieu wurschtelt sich in kleinen Schritten durch den Verklärungsurwald so hindurch.

Dass jeder etwas verklärt, ist also nichts Besonderes. Die einen verklären die Vergangenheit, andere verklären ihren Unmut, andere verklären die Einfachheit, andere verklären Sitte und Anstand, wieder andere verklären den Genuss und da hinten, da verklärt jemand sein Geschlecht. Man mag die verklärten Blicke der jeweils anderen verklärt belächeln und sie von Zeit zu Zeit damit necken und aufziehen, dass sie sich auf dem Holzweg befinden. Man sollte dabei vielleicht nur nicht so schwungvoll vorgehen, dass man von seinem eigenen Holzweg in den Morast rutscht. Allein an dieser Gefahr, im Sumpf jenseits der Holzwege zu versumpfen, kann man schon erkennen, wie funktional ein guter Holzweg, gezimmert aus den stabilen Brettern der Verklärung, die ein jeder vor seinem Kopf trägt. Und die Holzwege führen tatsächlich irgendwohin. 

Die Verklärungen führen also keineswegs zwangsläufig in den Abgrund. Sie mögen gegebenenfalls in die Irre führen, aber sie geben durchaus Sicherheit. Sie sind funktionale Konstruktionen. Konstruktionen, so wie der Stuhl auf dem sitze auch eine Konstruktion darstellt und ich ihn nur deshalb ja nicht gleich wegwerfe, sondern er funktioniert ja als Konstruktion. Wegen ihm muss ich nicht auf dem kalten Boden sitzen.

Verklärungen können also stabilisierende Funktionen erfüllen, für das soziale Zusammenleben (man verklärt das Vertrauen die Liebe und dann verlieben sich die Menschen tatsächlich, zumindest eine Zeitlang) oder für das Arrangement mit den Widrigkeiten den Welt, die - wie es im Steppenwolf sinngemäß erwähnt wird - sich leider allzu oft irrt, so dass das einzelne Individuum oftmals ratlos und frustriert im Alltag steht.

Ich zum Beispiel verkläre Pariser Bistros. Ab und an reise ich nach Paris, sitze den Großteil in diesen Establishments, trinke Cafe, esse Croissants, (früher rauchte ich unzählige Zigaretten, bis mir das von einem verklärten Gesundheitsdiskurs verleidet wurde), lese Bücher und mache mir dabei Notizen, als gelte es später am Abend noch André Breton oder den Protagonisten irgendeines Godardsfilms zu treffen. Das ist natürlich Unsinn. Doch der Ausflug in die Welt der Pariser Populärgastronomie, seine Heißgetränke und Backwaren ist eine transkulturelle Notwendigkeitsverklärung, um die fraglos ebenso notwendig viel profanere Populärgastronomie im profanen Alltagsgeschäft zu verklären: als eine, die vielleicht nicht an das Pariser Lebensgefühl, den Pariser Genuss und Pariser Geschmack heranreicht, aber doch immer noch eine Kopie dieser Verklärung ist und also solche dann doch sehr wohl besuchbar und es wert, auch hier Kaffee zu bestellen, Torten zu essen und das Notizbuch zu zücken. Man weiß ja nie, wer sich durch einen unerklärlichen Zufall, zu einem an den Tisch setzen und ein fruchtbares Gespräch über die funktionale Verklärung der Welt beginnen wird.

Jean Beraud, Au Bistro

Literatur: Marc Augé (2016): Das Pariser Bistro. Eine Liebeserklärung. Matthes & Seitz Berlin.


Mittwoch, 20. Februar 2019

Die wertvollen, aber verdrängten Restbestände (AS 03)

Die wertvollen, aber verdrängten alimentären Restbestände finden sich an vielen Orten. Doch zwei sind typisch für sie. 

Sie finden sich einerseits gern an repräsentativen Orten. In schönen Schüssel, ordentlich drapiert, stehen sie auf Tischen oder Fensterbänken und zeugen davon, dass sich ihre Besitzer anständig und zumeist vollwertig ernähren. Kleine Pyramiden von Äpfeln oder Schalen von Zitronen stehen herum. Jeder der an ihnen vorbeigeht, kann die guten Absichten in diesem Haushalt erkennen. Ja, "die Absichten". Denn langsam und ofmtals zunächst Zeit unbemerkt, tauchen erste Spuren davon auf, dass es sich in Tat gar nicht um eine Verzehrspraktik handelt, die hier ausgestellt wird, sondern um eine Praktik der guten Absichten und der Kennerschaft, die zum Ausdruck gebracht wird. Erste kleine braune Stellen, die nach und nach matschig werden und letztlich die guten Absichten des Käufers als Abbild des schlechten Gewissens verdichtend in die materielle Umwelt  transformieren, führen schließlich dazu, dass das Unweigerliche passieren muss: Die guten Absichten werden im Müll entsorgt. Die Biotonne ist der Kompostfriedhof der löblichen, aber realitätsfernen Intentionen. Es ist das modernde Aufeinandertreffen von gewichtigen sozialen Erwartungen der Kultur an das Individuum auf der einen Seite sowie der Struggle des Individuums auf der anderen Seite, diese Erwartungen zwar fleißig anzuerkennen und anzunehmen, aber eigentlich nicht umsetzen zu wollen.

Nun ja. Manche dieser guten Absichten können auch in haltbarerer Form erworben werden. Zum Beispiel Walnüsse. Die halten, zumindest äußerlich, nahezu ewig, sind allerdings nicht ganz so farbenfroh und dekorativ, deswegen finden sie sich oftmals an den anderen Orten: den Schubladen. Dort können sie liegen und warten auf den Tag, an dem es doch endlich passiert, dass der Besitzer sich denkt: genug der Schlemmerei und Nascherei ungesunden, unvollwertiger Nahrung, ab jetzt ernähr ich mich gesund! Dann greift er zu den Walnüssen, die er vielleicht im November 2007 kaufte, knackt eine, beißt hinein und wird daran erinnert, wie lange er gewartet hat. Und hier endet dann zumeist auch der kurze Anflug ins Reich sittlicher Ernährungsumstellung. Wie in nahezu jedem anderen Lebensbereich auch, flammt die Sittlichkeit kurz auf. Nur um dann allzu oft, von der Realität enttäuscht - da die sie nicht mit offenen Armen, sondern stattdessen mit Vorwürfen empfängt -, wieder herunterzukühlen.




Literatur: Michael Thompson (2003): Müll-Theorie: Die Schaffung und Vernichtung von Werten. Klartext.

Dienstag, 19. Februar 2019

Soziologie der Welterschleckung (AS 02)

Es gibt diese eine Frage, bei der man in Erfahrung zu bringen versucht, "ob eine Person Geschmack hat". Dabei geht es dann darum, ob diese Person in der Lage ist, zu erkennen, was schön oder was ästhetisch ist und was es eben nicht ist. Da sich über Geschmack bekanntlich (nicht) streiten lässt, ist diese "Geschmackskompetenz" stets etwas, was Bezug nimmt auf eine Referenzkultur, in der bereits mehr oder weniger festgelegt ist, was ästhetisch ist und was nicht. Dabei ist durch interkulturelle und historische Vergleiche freilich längst allgemein bekannt, dass es sehr unterschiedliche Kulturen gibt, die sehr unterschiedliche Dinge für ästhetisch und andere für unästhetisch halten.

Eine Person, der man unterstellt, dass "sie Geschmack hat", schreibt man dann zu, dass sie sich in ihrer Referenzkultur gut auskennt, dass sie "die Regeln des guten Geschmacks" gelernt hat. Also zum Beispiel: Auf einer anständige Hochzeit gibt es Champagner oder Sekt zu trinken und eher selten Dosenbierstechen. Personen, denen man sagt, dass "sie keinen Geschmack haben", wird dagegen unterstellt, ihnen würden Dinge gut gefallen, die sich so nicht gehören.

Welchen Rang, welchen Status eine Person in einer sozialen Gruppe einnehmen kann, hat auch viel damit zu tun, ob ihr zugestanden wird, geschmackvoll zu handeln oder nicht und somit zu zeigen, dass sie die kulturellen Regeln der Kultur beherrscht. Aber Vorsicht: manchmal kann auch ein Punk, ein Rebell, sich gegen das kulturelle Geschmacksestablishment durchsetzen. Vielleicht sogar, weil er die alten Geschmacksroutinen gezielt durchbricht.

Geschmack kann man aber auch abseits von dieser Status- und Distinktionsfrage soziologisch analysieren. So kann man das Schmecken als einen reflexiven Vorgang beobachten. Dieser bringt den Schmeckenden und das zu Schmeckende gleichermaßen hervor und vermittelt eine gleichermaßen sinnlich-körperliche wie auch problematisch-diffuse Bindung der Menschen und ihrer Gesellschaft an die materielle Welt. Wir hören quasi nie damit auf, was Peter Kubelka mal - sinngemäß - als das Erschlecken der Welt in der Kindheit beschrieben hat: "Die Grundlage für die Welterkenntnis ist die Welterschleckung." Den Soziologen interessieren nun die sozialen Aspekte, die kulturellen Kontexte, von denen diese ganz praktische und konkrete Welterschleckung bestimmt ist. Mit all den Freuden, die sich beim wilden herumschlecken so ergeben können. Aber auch mit all den Schwierigkeiten, wenn man mal wieder irgendetwas erschlecken wollte, dass sich dann doch als eher bitteres (Geschmacks-)Erlebnis herausgestellt hat und das man dann erst einmal einordnen und verarbeiten muss.

Diese Perspektive gibt dem konkret Schmeckenden, demjenigen, der, wie wir alle in zahllosen Alltagssituationen ganz konkret isst und trinkt und dabei schmeckt, eine Anerkennung als (Mit-)Handelndem und Weltkonstrukteur, die er in der eingangs zuerst genannten Perspektive nicht so explizit besitzt, sondern in der er vor allem durch übergeordnete Strukturen in seinem Tun (in seinem Schmecken) bestimmt wird. 

Der Schmeckende wird nicht nur als Strukturen reproduzierender Essender, sondern auch als kreativer, teils gewitzter und gewiefter Essender beobachtet. Dieser Populärgourmet verfügt über so manche Kompetenz, um auch eine schwierige Situation in seinem Sinne noch zu einer gelungenen Situation zu machen.

Gegen allerlei Widrigkeiten und manchmal eben auch gegen die Regeln und fast schon unsichtbaren Routinen erschleckt er die Welt. Und wie die meisten wohl noch aus Kindertagen wissen: Was ange(sch)leckt ist, ist meins!


Source: pixabay.com


Literatur: Antoine Hennion (2005): Pragmatic of Taste. In: Jacbos u. Hanrahan (Hrsg.): The Blackwell Companion tothe Sociology of Culture. S.131-144.

Montag, 18. Februar 2019

Nicht-menschliche Aktanten im Büro - Die Disziplin der Süßwaren (AS01)

In der, der Praxistheorie nahestehenden Akteur-Netzwerk-Theorie sind es nicht nur Menschen die zum aktiven Handeln fähig sind. Auch nicht-menschliche Dinge können in einer konkreten Situation Handlungen evozieren. Also nicht nur der Mensch kann den Computer anschalten, sondern dadurch, dass der Computer einen roten Knopf hat, durch den er sich anschalten lässt, fordert er auch dazu auf, ihn anzuschalten. Und dann muss man sich so davorsetzen, wie der Computer es will, denn wenn man das nicht tut, sich etwa mit dem Rücken zu Bildschirm setzt, dann wird das nichts, mit dem Textschreiben oder dem You-Tube-Videos gucken. Den Computer lässt das wie eine Primadonna kalt. Aber der Mensch, ja, der Mensch wird sich zu ihm umdrehen. 

Hier im Büro gibt es noch ganz andere nicht-menschliche Aktanten. Süße Waren, die mich - so liest man immerzu - zu disziplinlosem Naschen verleiten würden und mich direkt in die Falle der Fettsucht zu treiben gedenken. Doch ich beobachte sogar das Gegenteil!

Sie zwingen mich zur Selbstdisziplin! Mehrfach! Sie führen dazu, dass ich mich stundenlang zusammenreißen muss. Denn in der Mittagspause - ja, so brainwashed bin auch ich vom Diskurs über vollwertige Ernährung - soll etwas Vernünftiges gegessen werden (also heute indisches Mango-Chicken mit Reis und Salat). Ohne dieses Naschwerk, wäre mir der verinnerlichte Disziplinierungsapparat gar nicht bewusst! (Manchmal bestrafe ich die Kekse dann, indem ich sie in die Schublade verbanne, die als weiterer Aktant, neben verschwörerisch halb offen steht)

Erst danach, in der Nachmittagsarbeitszeit, erlaube ich mir, diesen aufdringlichen Verführerinnen nachzugeben und hemmungslos alles aus den Packungen zu angeln, zu fischen, zu fummeln, was ich ergattern kann - und solange es mir schmeckt. Doch auch dabei muss ich mich - ich bin ja nicht allein im Büro - selbstverständlich diszplinieren! Der Körper will sich vielleicht ekstatisch zum Krümmelmonster mutieren, all die Papiere, Aufgaben und Polohemden, auf denen Spuren nur allzu sichtbar zurückbleiben würden, vergessen. Doch die sozialen Manieren! Die kultivierte Sozialität!

Also: es kann nur mit halber Kraft gekrümelt werden, das Schmatzen wird unterdrückt, mehr innerlich als äußerlich vor Genuss geseufzt.

Ja, diese nicht-menschlichen Aktanten wecken gleichzeitig den vorzivilisierten Genusshunger in einem, wie sie einen gleichzeitig auch an die strengen Rollenkontrollen des modernen Büros zurückverweisen. 

Am Ende bleibt ein gefüllter Bauch, ein runder Schokoladengeschmack im Mund und natürlich ein Schokoladenfleck auf Seite 84 des Ausdrucks über Praxistheorie, der sich auch nicht mehr wegwischen lässt. Eine Spur, eine Erinnerung an zwanzig lustvolle Minuten im Büro, an eine von langer Konsumentenhand geplante Spontanversammlung von Aktanten, von denen sich nun "Keks" und "Goldbären" verabschiedet haben und zu einem Teil des menschlichen Akteurs geworden sind.




Literatur:

Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandorra. Suhrkamp.