Sonntag, 10. September 2017

Workshop "Stabile und fragile Netzwerke und Räume kulinarischer Vergemeinschaftung" - DGV Tagung 2017, Berlin

Workshop der AG Kulinarische Ethnologie auf der DGV Tagung 2017 5.10, FU Berlin, 9.00-10.30Uhr, Raum KL 32/102 

Stabile und fragile Netzwerke und Räume kulinarischer Vergemeinschaftung  

Über die alltägliche Ernährungspraxis und damit verbunden kulinarische sowie gustatorische Kulturformen erzeugen Menschen Verbindungen und Abgrenzungen, stabilisieren Kollektive und konstruieren Räume. In Zuge der Globalisierung der Weltgesellschaft, bedingt durch die Faktoren erhöhte personale Mobilität im Raum und Digitalisierung der Kommunikation, hat sich eine kulinarische Netzwerkkultur ausgebildet. Der Kennzeichen ist neben einer zunehmenden Binnendifferenzierung, die Aushandlung der Stabilität und Fragilität von ernährungskulturellen Identitäten.  Das Rahmenthema der Tagung aufnehmend sollen auf dem Workshop neue Formen kulinarischer Vergemeinschaftung im Fokus stehen, und dabei Fragen der innovativen Produktion von Lebensmitteln und Speisen, aber auch nach diversen Praktiken des Konsums und der Identifikationsangebote aufgreifen. Die Vielfalt von und der reflexive Diskurs über Ernährungsweisen unter den spezifischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts stellen ein ideales Forschungsfeld für die Untersuchung neu entstehender Räume des Kommensalismus dar. Sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum entstehen über neue oder wiederentdeckte Formen der gemeinsamen Produktion, des Teilens und des gemeinsamen Verzehrs neue Zugehörigkeiten und Vergemeinschaftungen, aber auch Abgrenzungen und Widerständigkeiten, die in affektive, moralische und politische Praktiken eingebunden sind und zum Beispiel Ausdruck von Lebensstilkulturen sind oder auch kritisch auf bestehende Muster von Ungleichheit und (Verteilungs-) Gerechtigkeit sowie den Umgang mit Lebensmitteln Bezug nehmen. Der Workshop sucht nach Forschungen, die weltweit diesen neuen Orten, Gemeinschaften, Netzwerken und Grenzen nachspüren.  

Vorträge

Vergemeinschaftung an der Mülltonne 
Benedikt Jahnke und Ulf Liebe, Universität Bern, Schweiz 

Mag  auch  in  der  heutigen  Zeit  die  klassische  Tischgemeinschaft  durch  vielltige   andere  Formen  ergänzt  und  teilweise  ersetzt  worden  sein,  so  ist  es  dennoch   etwas  Außeralltägliches,  wenn  der  Ort  der  Vergemeinschaftung  die  Mülltonne   darstellt.  Doch  genau  dies  ist  beim  Containern  der  Fall.  Auf  Grundlage  von  20   qualitativen   Interviews   und   einer   Befragung   von   über   200   Personen   mit    Containererfahrung  wird  deutlich,  ganz  gleich  aus  welchen  Motiven  heraus  man   Containern  geht,  sei  es  aus  politischen  oder  finanziellen  Gründen,  um  etwas   gegen  die  Ressourcenverschwendung  zu  unternehmen  oder  ein  Abenteuer  zu   erleben,   dass   die   gemeinsame   Suche   nach   Lebensmitteln   in   Supermarkt- Containern  neue  soziale  Beziehungen  und  ein  Wir -Gefühl  entstehen  lässt.  Dies   äußert sich u.a. darin, dass das Teilen von Lebensmitteln auch mit Fremden eine  weit verbreitete Praxis darstellt und dass Containern häufig in eine abe ndfüllende  Gruppenaktivität  eingebettet  ist  (sich  vorher  treffen,  gemeinsam  containern,   nachher zusammensitzen und kochen).

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Street  Food  in  Bangkok:  Urbane  Identitäten,  allgegenwärtiger  Konsum   und fließende Zwischenräume 
Nat Sattavet, Universität Wien, Österreich 

Die Food and Agriculture Organization (FAO) versteht unter Street Food „ready - to-eat foods and beverages prepared or sold by vendors or hawkers especially in  the streets and other similar places“.  Gisèle Yasmeen prägte den Begriff und das  Konzep t des public eating, welches sie in den tradierten Essensgewohnheiten der  lokalen Bevölkerung Bangkoks verortet. Bangkoks foodscapes sind rhizomatische  Strukturen, deren Grenzen fließend verlaufen. Es sind vor allem Orte des Transits  (Bushaltestellen,  Eingänge  zu  Gassen,  Gehsteige  etc.),  die  als  Zwischenräume   des  Konsums  fungieren.  Das  Attribut  der  Informalität  ist  als  Zuschreibung   anzusehen,   welches   durch   Interaktionen   mit   den   Autoritäten   täglich   neu    verhandelt wird. Dies macht öffentliche Räume in Bangkok  zu einer umkämpften  Domäne: den Strategien der Stadtverwaltung gegenüber stehen die Taktiken der  Händler_innen,  die  im  Stande  sind  durch  Mobilität  ihre  Angebotsstrukturen   aufrechtzuerhalten.  Beide  Seiten  buhlen  um  die  Gunst  der  Konsument_innen,   denn diese  entscheiden über den Fortbestand von Street Food, einem Phänomen,  das  Bangkoks  komplexe  Stadtmorphologie  charakterisiert  und  die  vielfältigen   Räume des urbanen Konsums offenlegt.

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The Value of Secrets in the Kriol Kitchen 
Lina Pranaitytė-Wergin, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/Saale 

The town of Broome at the Indian Ocean coast of northwest Australia has a multicultural history. Because of its coastal location, pearl farming and avibrant tourism industry,  Broome’s kriol kitchen accounts for more than 100 years of  migration and  creolisation  processes  that resulted from a combination of Australian  Aboriginal,  European,  Malay,  Chinese and Japanese  interactions. Through the  use of  diverse  ingredients  and  cultural variations of dishes, local families advocate  particular  cooking  traditions. Most of  the  signature  dishes of locally well-known cooks are gladly shared with guests. However, the expression of sensual admiration will scarcely result in the cook sharing the recipe. Even if done, a few ingredients or measurements will always be left out. The use of  secrets  in  food production and consumption reconfigures forms  of  belonging within families and communities. The regulation of access to secret and therefore valued knowledge generates various social relationships, including those, which define kinship,  identity, group belonging and exclusion.

https://tagung2017.dgv-net.de/de/
Organisation:
Dr. Daniel Kofahl, Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur (APEK)
Dipl.-Soz. Bettina Mann, Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/Saale
Sebastian Schellhaas, M.A., Goethe-Universität Frankfurt am Main


Montag, 4. September 2017

Soziale Faktoren von gesunder Ernährung werden vermisst, aber nicht gewürdigt



Wie das Ärzteblatt mit Bezug auf eine an der Universität Bielefeld durchgeführte Studie mitteilt, leidet jeder zweite Schüler in Deutschland unter Stress.[i] Es wird explizit darauf hingewiesen, wie relevant auch die Ernährungssituation der Schülerinnen und Schüler für ihr Stresserleben ist und auch, dass „wer regelmäßig gemeinsam mit der Familie frühstücke und zu Mittag esse, [sich] gesünder [ernähre]“. Dieser immanent wichtige soziale Aspekt des Ernährungsalltags wird also als besonders förderlich herausgestellt und – wie so oft – vermisst.

Interessant ist diesbezüglich, dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) gerade vielbeachtet ihre „10 Regeln“ aktualisiert hat[ii]. Darin finden sich viele technische, biochemische und physiologische Tipps für eine vollwertige Ernährung. Einen Hinweis auf soziale und kulturelle Einflussfaktoren und drauf, dass diese beachtet werden sollten, findet man aber leider nicht.

Dies ist symptomatisch für die institutionalisierte Ernährungsforschung der Gegenwart. Es wird ein allzu großes Augenmerk auf technische und naturwissenschaftliche Variablen gelegt, wenn es darum geht, wie sich gut und gesund zu ernähren ist. Dagegen finden soziokulturelle Aspekte in der öffentlichen Kommunikation und der geförderten Forschungslandschaft noch viel zu wenig Aufmerksamkeit. 

Wer Essen und Trinken verstehen will und wer für eine gelungene Ernährungspraxis eintritt, muss sich soziale Kontexte anschauen und sich mit deren Chancen und Risiken auseinandersetzen.


[i] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/77981/Fast-jeder-zweite-Schueler-leidet-unter-Stress
[ii] https://www.dge.de/fileadmin/public/doc/fm/10-Regeln-der-DGE.pdf