Donnerstag, 29. Februar 2024

Der ewige Nischenkönig - Soziologische Notizen zum Markt für Bio-Lebensmittel 2024

Auf der alljährlich im Februar stattfindenden Nürnberger Biofach wurde das traditionelle Loblied auf die Entwicklung des Biomarkts in Deutschland angestimmt. Gute Aufbruchsstimmung machen, das gehört freilich zum Kerngeschäft jedweder Verbandsarbeit. So hieß es: „[…] Umsatz mit Bio-Lebensmitteln mit erfreulichem Plus. Der Gesamtumsatz betrug 2023 16,1 Milliarden Euro (+5 Prozent). Der Lebensmitteleinzelhandel steigerte seine Bio-Umsätze um 7,2 Prozent auf 10,8 Milliarden Euro […]“. Es wird also deutlich mehr Geld mit Bio-Lebensmittel im Supermarkt und Discounter umgesetzt, während der Fachhandel stagniert bzw. – wie es etwas freundlicher ausgedrückt heißt – „stabil“ bleibt: „Der Bio-Fachhandel zeigte sich 2023 stabil mit einem Umsatz von 3,2 Milliarden Euro, was einem Zuwachs von 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht.“ 

Erste Einordnung

Die Umsatzsteigerung von 5 Prozent im Jahr 2023 folgt auf den deutlichen Umsatzrückgang im Jahr 2022 von 3,5 Prozent (vgl. Grafik 1). Dass es zu dieser Umsatzsteigerung kommt kann weitestgehend mit der Inflation in Deutschland erklärt werden, die besonders stark das Lebensmittelsegment betrifft. Der preissensible Verbraucher sieht als Ort des Einkaufs von Bio-Produkten zudem weniger den ideologisch stark mit der traditionellen Idee des ökologischen Landbaus verankerten Fachhandel, sondern akzeptiert auch den ideologisch flexibleren Bereich der Discounter und Supermärkte, wo ein offenbar vorhandenes Überangebot an Bioware nun als „günstige Premiumprodukte“ (im Gegensatz zu „teureren Premiumprodukten“ im Fachhandel) seinen Absatz sucht und findet.

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Quelle: BÖLW 2024

 

Umsatz und Anteil

Ernährungssoziologisch noch interessanter als die „Umsatzzahlen“ ist allerdings etwas anderes. Nämlich der konkrete Anteil von Bio-Lebensmitteln am Gesamtverbrauch von Lebensmitteln auf dem Lebensmittelmarkt. Hier zeigt sich nämlich, wie viel wirklich in Bio-Qualität verzehrt wird und nicht nur, wie viel Geld auf dem Biomarkt verschoben wird.

Dies ist deshalb in Bezug auf Bio-Lebensmittel interessant, weil der Premium-Effekt von Bio sich eigentlich nicht nur allein aus der „Marke“ (in diesem Fall des/der „Label/s“) ergibt.

Bei (zugespitzt formuliert) reinen Markenprodukten kommt es in der Tat primär darauf an, wie viel Geld mit den nicht immer eine besondere objektive Qualität aufweisenden Produkten verdient wird. Die Bio-Markenkultur definiert gerade dadurch, dass seine Vertreter eine spezifisch objektive Qualität für ihre Produkte und die damit zusammenhängenden Produktionsfaktoren postulieren. Die nach bestimmten rechtlich oder satzungsgemäß festgelegten Kriterien zertifizierten Bio-Produkte sollen einen entscheidenden Beitrag für eine bessere Welt erbringen: weniger Umweltbelastung, artgerechtere Tierhaltung, ökologisch nachhaltige Landschaftspflege etc.  Dafür müssten sie aber der inneren Logik folgend, Nicht-Bio-Produkte – sogenannten „konventionelle“ Lebensmittel – substituieren. Das passiert nicht, wenn einfach nur extrem viel „Umsatz“ mit Bio-Produkten generiert wird, aber der Anteil am Konsum gering oder sogar rückläufig ist. Bio-Produkte müssen also qua Ideologie „Marktanteile erringen“. Sonst bleibt da viel Rauch, um ein bei genauerer Betrachtung nur zwar stetes, aber kleines Feuerchen.

Die soziologisch interessante Frage nach gesellschaftlichem Ernährungswandel macht sich also am konkreten Essverhalten der Bevölkerung fest und nicht allein am Ausgabenverhalten einzelner Milieus.

Zweite Einordnung

Leider wird der Aspekt des Anteils des Konsums am Gesamtlebensmittelmarkt und vor allem an einzelnen Produktgruppen von den großen Bio-Protagonisten nur nachgeordnet behandelt. Aber immerhin, ein paar Daten zu selektiv ausgewählten Lebensmitteln und ihrem Anteil am Gesamtlebensmittelmarkt gibt es in der jährlich erscheinenden BÖLW-Broschüre „Daten – Zahlen – Fakten“ und das ist immerhin besser als Nichts.

Betrachten wir die Übersichtgrafik zur Absatzentwicklung verschiedener Bio-Produkte 2023 so fällt auf, dass es zwar bei vielen einzelnen Produkten das vielfach gelobte Umsatzwachstum, aber nur bei deutlich weniger Produkten auch eine Mengenwachstum gibt: Quark (+17,4 Prozent), pflanzliche Milchgetränke, Käse, frische Backwaren Wurstwaren, Mehl, Jogurt und gerade noch so Rotfleisch (+ 0,3 Prozent) fallen darunter.

Einen Marktanteil von über 10 Prozent weisen dabei nur zwei der acht Produktkategorien auf, nämlich pflanzliche Milchgetränke (beeindruckende 65,6 Prozent) und Mehl (immerhin noch 16,9 Prozent). In allen anderen aufgelisteten Produktkategorien gab es Rückgänge bei der Absatzmenge, auch dort, wo Bio an sich (immer relativ zu anderen Bio-Produktkategorien gesehen) stark ist, also bei Milch (-2,6 Prozent), Eiern (-5,7 Prozent), Speiseöl (-7,4 Prozent) und sogar bei den doch ans ökologisch-nachhaltig auftretende Kulturmilieu gut andockbaren Fleischersatzprodukten (-14,7 Prozent).

Im Vergleich mit entsprechenden Grafiken aus den BÖLW-Reports 2023 und 2022 für die Jahr 2022 und 2021 fällt auf, dass sich damit der Mengenwachstumseffekt in vielfältigen Produktkategorien aus dem Coronajahr (2021) wieder verflüchtigt hat, wenngleich der Einbruch nicht ganz so dramatisch ist wie er sich im ersten Post-Corona-Jahr 2022 in nahezu allen Produktkategorien – mit Ausnahme der Fleischersatzprodukte und Pflanzendrinks – offenbart hat.

Es ist also nicht besonders erstaunlich, dass der Umsatzanteil von Biolebensmitteln am Gesamtmarkt in Deutschland mit etwas über 6 Prozent stagniert. Über 93 Prozent des Umsatzes wird somit – obwohl Bio-Lebensmittel in aller Regel immer einen Aufpreis kosten, also teurer sind – mit konventionell produzierten Lebensmitteln erzielt. Damit ernährt sich auf die Bevölkerung in Deutschland weiterhin im sehr großen Stil überwiegend mit diesen Lebensmitteln. Die große Bio-Ernährungswende auf den Tellern der Menschen allein auf Quark und Pflanzendrinks aufzubauen und zu hoffen, dass sich hier quasi als Automatismus des Zeitverlaufs eine Bio-Esskultur implementiert, erscheint dann doch irgendwie eher verträumt.

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Quelle: BÖLW 2024


Quelle: BÖLW 2023

 

Quelle: BÖLW 2022

Ergänzungen

Im Zuge der in den letzten Monaten stattfindenden Proteste breiter Teile des landwirtschaftlichen Milieus wurde auch das weiter anhaltende Höfesterben wieder einmal zum Thema. Gab es vor 25 Jahren noch über 472.000 landwirtschaftliche Betriebe in Deutschland, sind es heutzutage nur noch knapp 255.000, Tendenz weiter sinkend, fast 8.000 Betriebe haben seit 2020 aufgegeben. Damit verbunden ist eine Konzentration der Betriebsgrößen und das beinhaltet auch Bio-Betriebe, die keineswegs immer die kleinen romantischen Almbetriebe sind, die in der Bevölkerung gern mit ihnen assoziiert werden. Zur sachlichen Darstellung der Bio-Landwirtschaft würde gehören, dass deutlich wird, dass man auch hier „XXL-Ökobetriebe“ (agrarheute) vorfindet, wie Dennree aus Thüringen (neuerdings stolze 6.100 Hektar und 3.000 Rinder groß).

Dabei zeigt sich, dass sowohl große, sehr effizienzorientierte Betriebe nach ökologisch zertifizierten Kriterien produzieren können, genauso wie kleinen und mittleren Familienbetrieben konventionelle Methoden präferieren können. Gerade kleine und mittlere Betriebe verfolgen dabei neben der fraglos unabdingbaren ökonomischen Stabilität oftmals weitere Primärziele, dies können etwa Wertziele wie Tradition, Nischenqualität, Familienorientierung etc. sein.

So man wird auch festhalten müssen, dass die überwiegende Mehrheit auch der kleinen und mittleren Betriebe gerade keine Bio-Bauern sind. Circa 86 Prozent aller Landwirte arbeiten konventionell, 88 Prozent der landwirtschaftlich bewirtschafteten Fläche ist ebenfalls Ort konventioneller Produktion. Und das alles, trotz inzwischen jahrelangem politisch und zivilgesellschaftlich aufgedrehtem Bio-Hype.

Schaut man über die Grenze ins Nachbarland Österreich – wo Bio-Lebensmittel immerhin über 11 Prozent des Gesamtumsatzes mit Lebensmitteln ausmachen – dann sieht man, dass es sogar eine Trendumkehr geben kann: Die Anzahl der Bio-Betriebe ging dort 2023 ebenso zurück (um fast 4 Prozent) wie nach ökologisch zertifizierten Kriterien bewirtschaftete Fläche (-10.000 Hektar), der Anteil verkaufter Bio-Lebensmittel an der Gesamtmenge sank um über 2 Prozent.

Obwohl sowohl in Deutschland als auch Österreich die der Bio-Produktion ideologisch extrem nahestehende oder man könnte auch gleich sagen „mit ihr auf das engste verwobene, wenn nicht gar verstrickte“ Grüne-Partei in der Regierung wichtige Ministerien in Bezug auf Agrar und Ernährung besetzt, gibt es derzeit keinen Schub auf dem Biomarkt.

Zum Schluss über den Schluss hinaus

Die zunehmende Verlagerung des Einkaufs von Bio-Produkten vom Fachhandel in die Discounter zeigt, dass Bio als Premium- und Disktinktionsprojekte sowohl selber konventioneller und alltäglicher werden, aber auch die Nische im Massenmarkt stabilisieren. Sie werden damit für explizite Disktinktions- und Snobkäufer weniger interessant, sind dafür aber Teil der nicht nur einen Sommer lang andauernden alimentären Alltagskultur.

Allerdings müssen sie und ihre ideologischen Protagonisten nun auch neuen Fragen stellen, womit der monetäre Aufpreis und auch womit der mediale Rummel um sie gerechtfertigt sind. Verbessert ihr Kauf wirklich die Welt? Schafft ihr Konsum reale Fakten in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit? Ist eine ökologische Landwirtschaft die bessere Landwirtschaft als die konventionelle Landwirtschaft und wenn ja, für wen? Für die Natur? Für die Tiere? Für die Landwirte? Für die Konsumenten?

Oder – und diese Frage ist keineswegs abgeräumt – ist der Kauf von Bio-Produkten nur etwas, um das bürgerliche Konsumentengewissen in einer – im vielleicht besten Fall – alles in allem moralisch völlig indifferenten Gesellschaft mit ansonsten ausufernder Konsumkultur zu befriedigen? Etwa: Okay, ich kaufe den Bio-Quark und dafür muss ich nicht darüber nachdenken, wie mein alljährlich neu angeschafftes Smartphone hergestellt wird.

Skeptisch werden schwankende Verbraucher machen, dass gerade die Vertreter der Grünen Parteien, bei der überwiegenden Zahl der Landwirtinnen und Landwirten einen gelinde gesagt „schweren Stand“ haben. Diejenigen, die ganz praktisch die Produkte herstellen, die Tiere versorgen, die Felder bestellen, die Höfe am Laufe halten, scheinen der politischen Agenda des ökologischen Landbaus zu misstrauen oder sie für praxisferne Bürokraten zu halten. Dass schadet der Idee des ökologischen Landbaus, wenn der Eindruck entsteht, die Idee ist mit der realen Praxis und der in ihr arbeitenden Menschen gar nicht kompatibel.

Interessant ist auch, dass es inzwischen Akteure gibt, die sich der Idee einer ökologisch nachhaltigen Lebensmittelproduktion durchaus authentisch verpflichtet sehen, aber zentrale Bausteine der gegenwärtigen EU-Ökoverordnung und der traditionellen Ideologie des Bio-Kulturmilieus kritisch sehen. Unter dem Label „Progressive Argrarwende“ hat sich ein Öko-Progressives-Netzwerk entwickelt. Dort positioniert man sich unter Rückgriff auf seriöse, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse für den Einsatz von Neuen Genomischen Techniken und einen realistischen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Den Protagonisten dieser neuen agrarwissenschaftlichen Bewegung, in der sich einige Protagonisten auch zu einem Verein zusammengeschlossen haben, kann man kaum vorwerfen, ferngesteuerte und hochbezahlte Agenten multinationaler Agrochemikonzerne oder was auch immer zu sein. Im Gegenteil lassen sich hier authentische Diskursbeteiligungen beobachten, die sehr stark auf die Kraft des wissenschaftlichen Arguments und die Diskussion älterer und neuerer Hypothesen mit (fast allen) Beteiligten setzen. Das wirkt neu und bringt auch frischen Wind in eine Ökoszene, die zuletzt mit sehr wenig Diskursoffenheit und mit viel Pathos – mittels scheinbar in Stein gemeißelter Regulierungen – auf Bundes- und EU-Ebene versucht hat, auch nur partikulare Entwicklungen im Bereich hochmoderne Agrartechnologien zu verhindern. Das wirkt angesichts der Veränderungen bei den Produktions- und Vertriebsstrukturen von Bio-Produkten eher widersprüchlich.

Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Weiterentwicklung alimentärer Nachhaltigkeit wäre auch eine diskursive Weiterentwicklung der Bio-/Öko-Kultur unter Einbeziehung aller Argumente, möglichst vieler Akteure und eine perspektivische Ergebnisoffenheit eigentlich der Komplexität des Sachverhalts dienlicher. Stagnation überwindet man nur selten durch Stagnation.



Weiterführende Quellen

https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/xxl-oekobetrieb-schluckt-anderen-oeko-riesen-zusammen-6100-ha-gross-616444?fbclid=IwAR1IJ_DySBpq_HtffoJmVx2vnSGWQ7Zbkg72lpWacUQnRACnRVxa4JmRzdE

https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/oekolandbau-14-landwirte-oekobauern-noch-luft-oben-616473

https://www.boelw.de/themen/zahlen-fakten/

https://www.dolomitenstadt.at/2024/02/15/rueckgang-auf-hohem-niveau-bio-boomt-nicht-mehr/

https://www.derstandard.de/story/3000000207064/biobetriebe-unter-druck-wir-bewegen-uns-in-einem-feindlichen-umfeld

https://progressive-agrarwende.org/

https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Landwirtschaftliche-Betriebe/_inhalt.html

https://www.welt.de/wirtschaft/article250075112/Bio-Lebensmittel-Der-ueberraschende-Verlierer-des-neuen-Booms.html