https://twitter.com/kallenje/status/689859051484758016
Es gibt in der Gegenwartskultur einen Hang zur
übertrieben Mäßigung. Dies ist ein paradoxes Phänomen, denn es ist das Ideal, es sich nicht zu ideal (vorzüglich) gehen zu lassen
beziehungsweise es ist eine Form unvernünftig heftiger Vernunft.
Bei dem Anspruch des Ideals von der übertriebenen
Mäßigung handelt es sich entweder:
(i) um einen Rechtfertigungsformalismus, mit dem
die Kultur und dann auch individuelle Personen selbst, ihre strukturelle Unmöglichkeit
zum es sich unbeschwert Gut-gehen-lassen hinnehmen lernen. Wer gar nicht
das nötige Geld oder die nötige Frei-Zeit hat, stets lange gemütlich im
Himmelbett auszuschlafen und so ausgiebig genussvoll Leckereien zu schlemmen,
wie man möchte, der akzeptiert dies eher, wenn er glaubt, der Verzicht darauf
sei vernünftig und anständig. Alle anderen werden entweder depressiv
(passiv-fatalistischer Typ) oder neigen zur Revolte (aktiv-optimistischer Typ).
Beides unter bürgerlich-kapitalistischen Deutungsmustern wenig geschätzte
Lebensstilentwürfe.
oder (ii) um bigottes Geschwätz. In dieser Form
kommt es vor allem bei Personen vor, die es sich selbst sehr wohl gut gehen
lassen, aber andere gerne zur Mäßigung aufrufen. Seit jeher ist dies die Rolle
des aristokratischen oder großbürgerlichen Adels gewesen, der bei heißer
Schokolade, Wildbret oder delikaten Häppchen vom üppigen Büffet, die Fress-,
Spiel- und Sexsucht der niederen Massen stöhnend bedenkt oder pädagogisch
bedauert. Inzwischen findet sich dieses Verhalten als Angewohnt allerdings bei
vielfältigen Personengruppen in diversen sozialen Positionen und Lagen.
So kommen beide Formen des Ideals
übertriebener Mäßigung ebenfalls in den herkömmlichen Paarbeziehung vor, das heißt,
in der Kommunikation zwischen den Liebespartnern. Dabei ist es in Bezug auf die
Ernährungspraxis oftmals die Frau, die unter das Mäßigungsdiktat gerät. Qua so
mancher Erzählung, die über "das weibliche Wesen" kursiert, ist sie "von Natur" weniger vernünftig, mehr
gefühlsbetont und vor allem, wenn man(n) nicht mit Argusaugen wacht, neigt sie zur
Übertreibung in zahlreichen Facetten (Hysterie, Naschsucht, Schwärmerei etc.). Und während Männer immer gerne dazu aufgefordert, teilweise auch
genötigt werden, noch etwas "größere Portionen zu nehmen" oder gleich
Truckerteller und Schwenkkrüge bekommen, weil sie aus ihrem Naturell heraus
schon "mehr brauchen", sind Frauen zum
Maßhalten angehalten.
Dazu steht die moderne, bürgerliche Frau unter
einem Schlankheitsdiktat, das medial mit einer Brachialität in die Ernährungs-
und Körperkultur gepresst wird, dass vielen der Appetit verleidet wird.
Diätbedingten (Heiß-)Hunger haben sie, die Frauen, selbstverständlich trotzdem.
Leider machen sich allzu oft ihre Partner zu billigen Handlagern des körperlichen und
nutritiven Mäßigungsfanatismus. Zwar ist überschwängliche Mäßigung nicht weit
entfernt von lauer Mäßigkeit, dennoch, Mäßigungsapostel erinnern nur zu gerne ihre Partnerin rüperlhaft daran, beim Essen nicht
zu sehr über die Stränge zu schlagen, "auf die Figur zu achten" oder missbilligen körperliche Proportionen, die durch Essen und Trinken verursacht
worden sein sollen und die sie kleinmütig für fehlerhaft zu halten gelernt haben.
Jenny
Kallenbrunnen weißt dagegen ganz richtig darauf hin, dass das auch anders
geht! Der wahre Gentleman ist immer ebenso ein Gentleman la Cuisine. Er ist sich
bewusst, dass Genuss und Lebensfreude, und dazu gehört nun mal gutes Essen und
Trinken, die Partnerin stets glücklicher und damit schöner machen, und er weiß
ebenso, dass die Dame der Wahl sehr wohl selbst bestimmen knan, wieviel sie
noch aus dem Kühlschrank nehmen mag. Da ihr hierbei von der Mäßigungskultur
mitsamt deren massenmedialen Propagandasalven generell schon ernährungskulturelle
Hemmschwellen vor der Kühlschranktür errichtet werden, ist es nur folgerichtig,
dass "echte Männer" ihrer Frau die Kühlschranktür aufhalten. Das ist höflich, das
ist genussförderlich, das ist - kurzum - das Minimum partnerschaftlicher
Arbeits- und Aufmerksamkeitsökonomie. Dann ist es übrigens gar nicht so
unwahrscheinlich, dass die Herzdame nachher durchaus auch noch etwas für den Partner
aus dem Kühlschrank zu essen und zu trinken auf dem Arm hat.
Literatur
Robert Pfaller (2011): Wofür es sich zu leben lohnt: Elemente materialistischer Philosophie. S. Fischer.
Christoph Klotter (2008). Der Krieg gegen Übergewicht: Warum er geführt wird, warum er verloren ist, wie er beendet werden könnte. Mitteilungen – Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens. 16, 2 – 11.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen