Dienstag, 20. Dezember 2016

Archiv & Dokumentation: Gründungsaufruf zur AG Kulinarische Ethnologie 2009 von Marin Trenk

Im Jahr 2009 wurde die AG Kulinarische Ethnologie in der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) gegründet und offiziell institutionalisiert. Diesem Vorgang ging ein Gründungsaufruf von Prof. Dr. Marin Trenk, der an der Goethe Universität Frankfurt Ethnologie lehrt, voraus. Dieser Gründungsaufruf soll hier folgenden als Zeitdokument im original Wortlaut dokumentiert werden:

"Aufruf zur Gründung der AG Kulinarische Ethnologie

Nahrung und Essen sind für alle Gesellschaften von grundlegender Bedeutung und die Küche oder „Cuisine“ ist ein wesentlicher Teil jeder Kultur. Da beim Umgang mit Essen und Trinken die verschiedensten Aspekte einer Gesellschaft bedeutsam sind und wirksam werden, haben wir es hier mit einem klassischen „gesellschaftlichen Totalphänomen“ im Mauss’schen Sinne zu tun. Dennoch haben Ethnologen die von Kultur zu Kultur unterschiedlichen kulinarischen Vorstellungen und Praktiken lange Zeit eher zögernd zur Kenntnis genommen und nur ansatzweise beschrieben. Vielleicht waren, wie Sidney Mintz vermutete, die mit der Herstellung und Zubereitung von Nahrungsmitteln verbundenen Tätigkeiten vielen (männlichen) Ethnologen einfach zu banal; wahrscheinlich war dies aber auch die Folge einer verbreiteten Geringschätzung des Kulinarischen. 

Die kulturspezifischen Foodways wurden in der Ethnologie vor allem thematisiert, wenn sie Aufschluss über andere Aspekte der Kultur versprachen: wie etwa Essen die Menschen mit ihren Göttern verband, Loyalitäten zementierte oder sie daran erinnerte, wer sie im Verhältnis zu anderen waren. Demnach interessierte nicht das „kulinarische Feld“ an sich, sondern nur, wozu Essen und Trinken gebraucht werden konnten. 

Dies hat sich vor allem durch zwei Arbeiten geändert: Im Anschluss an die Studie von Jack Goody (1982) über den Zusammenhang von kulinarischer und sozialer Differenzierung und jener von Mintz (1985) zum Anteil des Zuckers an der Herausbildung der kapitalistischen Moderne hat sich die Thematik als eigenständiges Forschungsfeld etabliert. Das Interesse an Prozessen der Globalisierung schließlich hat der „Anthropology of Food“ endgültig zum Durchbruch verholfen. 

Seither haben sich einige der anregendsten Arbeiten Fragen der Diffusion und Transformation, aber auch der Aneignung, Identität und Beharrung zugewandt: 

  • Wie erklärt sich die Ausbreitung des amerikanischen Fastfood weltweit und besonders in den hoch differenzierten Esskulturen Asiens? Wie wird Fastfood angeeignet? Und welche lokalen Auswirkungen ergeben sich daraus (Watson 1997)? 
  • Wie verläuft - quasi im Gegenzug - die Aneignung zahlreicher außereuropäischer und besonders asiatischer Küchen im Westen und zunehmend allen Teilen der Welt? Welche Küchen oder auch nur einzelne Speisen globalisieren sich, und welche scheinen dafür (noch) nicht zu taugen? Wie passen das immer breiter gefächerte Angebot an gastronomischen Richtungen und Lebensmitteln und die sich gleichzeitig rasant ausweitenden Nahrungstabus und Meidungen im Westen zusammen? 
  •  Welchen Anteil haben Kochbücher an der Entstehung einer „nationalen Küche“ (Appadurai 1988)? Wie entstehen überhaupt nationale Küchen in einer Welt, die vor allem ethnische und regionale Esstraditionen kennt? Und vermögen eigentlich nationale Küchen über eine rein „textuelle“ Realität hinaus zu existieren?
  • Wie gehen die neuen Eliten und aufstrebenden Mittelklassen mit dem kulinarischen Erbe der Kolonialzeit und den gegenwärtigen globalen Tendenzen um? Hat das „einfache Mahl“ (Spittler 1992) der Agrargesellschaften im globalen Zeitalter eine Zukunft? 
  • Doch nicht alles wandelt sich. Gerade das Essverhalten wird gemeinhin als besonders konservativ angesehen. Welche Ernährungsweisen bleiben also gleich und stabil?
Dies sind selbstverständlich nur einige Fragen und Aspekte. Die „AG Kulinarische Ethnologie“ richtet sich an alle die Interesse haben, sich mit dem Thema Essen und Kultur zu beschäftigen. Ein erster Workshop ist für die nächste Jahrestagung der DGV 2009 geplant. 

Kontakt: 
Prof. Dr. Marin Trenk 
Institut für Historische Ethnologie 
Goethe-Universität Frankfurt am Main 
Grüneburgplatz 1 
60323 Frankfurt/M 
trenk@frobenius-institut.uni-frankfurt.de"

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