Auf der alljährlich im Februar stattfindenden Nürnberger Biofach wurde das traditionelle Loblied auf die Entwicklung des Biomarkts in Deutschland angestimmt. Gute Aufbruchsstimmung machen, das gehört freilich zum Kerngeschäft jedweder Verbandsarbeit. So hieß es: „[…] Umsatz mit Bio-Lebensmitteln mit erfreulichem Plus. Der Gesamtumsatz betrug 2023 16,1 Milliarden Euro (+5 Prozent). Der Lebensmitteleinzelhandel steigerte seine Bio-Umsätze um 7,2 Prozent auf 10,8 Milliarden Euro […]“. Es wird also deutlich mehr Geld mit Bio-Lebensmittel im Supermarkt und Discounter umgesetzt, während der Fachhandel stagniert bzw. – wie es etwas freundlicher ausgedrückt heißt – „stabil“ bleibt: „Der Bio-Fachhandel zeigte sich 2023 stabil mit einem Umsatz von 3,2 Milliarden Euro, was einem Zuwachs von 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht.“
Erste Einordnung
Die Umsatzsteigerung von 5 Prozent im Jahr 2023 folgt auf den deutlichen Umsatzrückgang im Jahr 2022 von 3,5 Prozent (vgl. Grafik 1). Dass es zu dieser Umsatzsteigerung kommt kann weitestgehend mit der Inflation in Deutschland erklärt werden, die besonders stark das Lebensmittelsegment betrifft. Der preissensible Verbraucher sieht als Ort des Einkaufs von Bio-Produkten zudem weniger den ideologisch stark mit der traditionellen Idee des ökologischen Landbaus verankerten Fachhandel, sondern akzeptiert auch den ideologisch flexibleren Bereich der Discounter und Supermärkte, wo ein offenbar vorhandenes Überangebot an Bioware nun als „günstige Premiumprodukte“ (im Gegensatz zu „teureren Premiumprodukten“ im Fachhandel) seinen Absatz sucht und findet.
|
Quelle: BÖLW 2024
|
Umsatz und Anteil
Ernährungssoziologisch noch interessanter als die
„Umsatzzahlen“ ist allerdings etwas anderes. Nämlich der konkrete Anteil von
Bio-Lebensmitteln am Gesamtverbrauch von Lebensmitteln auf dem Lebensmittelmarkt.
Hier zeigt sich nämlich, wie viel wirklich in Bio-Qualität verzehrt wird und
nicht nur, wie viel Geld auf dem Biomarkt verschoben wird.
Dies ist deshalb in Bezug auf Bio-Lebensmittel interessant,
weil der Premium-Effekt von Bio sich eigentlich nicht nur allein aus der
„Marke“ (in diesem Fall des/der „Label/s“) ergibt.
Bei (zugespitzt formuliert) reinen Markenprodukten
kommt es in der Tat primär darauf an, wie viel Geld mit den nicht immer eine
besondere objektive Qualität aufweisenden Produkten verdient wird. Die Bio-Markenkultur
definiert gerade dadurch, dass seine Vertreter eine spezifisch objektive
Qualität für ihre Produkte und die damit zusammenhängenden Produktionsfaktoren
postulieren. Die nach bestimmten rechtlich oder satzungsgemäß festgelegten
Kriterien zertifizierten Bio-Produkte sollen einen entscheidenden Beitrag
für eine bessere Welt erbringen: weniger Umweltbelastung, artgerechtere
Tierhaltung, ökologisch nachhaltige Landschaftspflege etc. Dafür müssten sie aber der inneren Logik
folgend, Nicht-Bio-Produkte – sogenannten „konventionelle“ Lebensmittel –
substituieren. Das passiert nicht, wenn einfach nur extrem viel „Umsatz“ mit
Bio-Produkten generiert wird, aber der Anteil am Konsum gering oder sogar
rückläufig ist. Bio-Produkte müssen also qua Ideologie „Marktanteile erringen“.
Sonst bleibt da viel Rauch, um ein bei genauerer Betrachtung nur zwar stetes,
aber kleines Feuerchen.
Die soziologisch interessante Frage nach gesellschaftlichem Ernährungswandel
macht sich also am konkreten Essverhalten der Bevölkerung fest und nicht allein
am Ausgabenverhalten einzelner Milieus.
Zweite Einordnung
Leider wird der Aspekt des Anteils des Konsums am
Gesamtlebensmittelmarkt und vor allem an einzelnen Produktgruppen von den
großen Bio-Protagonisten nur nachgeordnet behandelt. Aber immerhin, ein paar
Daten zu selektiv ausgewählten Lebensmitteln und ihrem Anteil am
Gesamtlebensmittelmarkt gibt es in der jährlich erscheinenden BÖLW-Broschüre
„Daten – Zahlen – Fakten“ und das ist immerhin besser als Nichts.
Betrachten wir die Übersichtgrafik zur Absatzentwicklung
verschiedener Bio-Produkte 2023 so fällt auf, dass es zwar bei vielen einzelnen
Produkten das vielfach gelobte Umsatzwachstum, aber nur bei deutlich weniger
Produkten auch eine Mengenwachstum gibt: Quark (+17,4 Prozent), pflanzliche
Milchgetränke, Käse, frische Backwaren Wurstwaren, Mehl, Jogurt und gerade noch
so Rotfleisch (+ 0,3 Prozent) fallen darunter.
Einen Marktanteil von über 10 Prozent weisen dabei nur zwei
der acht Produktkategorien auf, nämlich pflanzliche Milchgetränke
(beeindruckende 65,6 Prozent) und Mehl (immerhin noch 16,9 Prozent). In allen
anderen aufgelisteten Produktkategorien gab es Rückgänge bei der Absatzmenge,
auch dort, wo Bio an sich (immer relativ zu anderen Bio-Produktkategorien
gesehen) stark ist, also bei Milch (-2,6 Prozent), Eiern (-5,7 Prozent),
Speiseöl (-7,4 Prozent) und sogar bei den doch ans ökologisch-nachhaltig
auftretende Kulturmilieu gut andockbaren Fleischersatzprodukten (-14,7
Prozent).
Im Vergleich mit entsprechenden Grafiken aus den
BÖLW-Reports 2023 und 2022 für die Jahr 2022 und 2021 fällt auf, dass sich
damit der Mengenwachstumseffekt in vielfältigen Produktkategorien aus dem
Coronajahr (2021) wieder verflüchtigt hat, wenngleich der Einbruch nicht ganz
so dramatisch ist wie er sich im ersten Post-Corona-Jahr 2022 in nahezu allen
Produktkategorien – mit Ausnahme der Fleischersatzprodukte und Pflanzendrinks –
offenbart hat.
Es ist also nicht besonders erstaunlich, dass der
Umsatzanteil von Biolebensmitteln am Gesamtmarkt in Deutschland mit etwas über
6 Prozent stagniert. Über 93 Prozent des Umsatzes wird somit – obwohl
Bio-Lebensmittel in aller Regel immer einen Aufpreis kosten, also teurer sind –
mit konventionell produzierten Lebensmitteln erzielt. Damit ernährt sich auf
die Bevölkerung in Deutschland weiterhin im sehr großen Stil überwiegend mit
diesen Lebensmitteln. Die große Bio-Ernährungswende auf den Tellern der
Menschen allein auf Quark und Pflanzendrinks aufzubauen und zu hoffen, dass
sich hier quasi als Automatismus des Zeitverlaufs eine Bio-Esskultur
implementiert, erscheint dann doch irgendwie eher verträumt.
|
Quelle: BÖLW 2024
|
|
Quelle: BÖLW 2023
|
|
Quelle: BÖLW 2022
|
Ergänzungen
Im Zuge der in den letzten Monaten stattfindenden Proteste
breiter Teile des landwirtschaftlichen Milieus wurde auch das weiter anhaltende
Höfesterben wieder einmal zum Thema. Gab es vor 25 Jahren noch über 472.000 landwirtschaftliche
Betriebe in Deutschland, sind es heutzutage nur noch knapp 255.000, Tendenz
weiter sinkend, fast 8.000 Betriebe haben seit 2020 aufgegeben. Damit verbunden
ist eine Konzentration der Betriebsgrößen und das beinhaltet auch Bio-Betriebe,
die keineswegs immer die kleinen romantischen Almbetriebe sind, die in der
Bevölkerung gern mit ihnen assoziiert werden. Zur sachlichen Darstellung der
Bio-Landwirtschaft würde gehören, dass deutlich wird, dass man auch hier
„XXL-Ökobetriebe“ (agrarheute) vorfindet, wie Dennree aus Thüringen (neuerdings
stolze 6.100 Hektar und 3.000 Rinder groß).
Dabei zeigt sich, dass sowohl große, sehr
effizienzorientierte Betriebe nach ökologisch zertifizierten Kriterien
produzieren können, genauso wie kleinen und mittleren Familienbetrieben konventionelle
Methoden präferieren können. Gerade kleine und mittlere Betriebe verfolgen
dabei neben der fraglos unabdingbaren ökonomischen Stabilität oftmals weitere Primärziele,
dies können etwa Wertziele wie Tradition, Nischenqualität, Familienorientierung
etc. sein.
So man wird auch festhalten müssen, dass die überwiegende
Mehrheit auch der kleinen und mittleren Betriebe gerade keine Bio-Bauern sind.
Circa 86 Prozent aller Landwirte arbeiten konventionell, 88 Prozent der
landwirtschaftlich bewirtschafteten Fläche ist ebenfalls Ort konventioneller
Produktion. Und das alles, trotz inzwischen jahrelangem politisch und
zivilgesellschaftlich aufgedrehtem Bio-Hype.
Schaut man über die Grenze ins Nachbarland Österreich – wo
Bio-Lebensmittel immerhin über 11 Prozent des Gesamtumsatzes mit Lebensmitteln
ausmachen – dann sieht man, dass es sogar eine Trendumkehr geben kann: Die
Anzahl der Bio-Betriebe ging dort 2023 ebenso zurück (um fast 4 Prozent) wie
nach ökologisch zertifizierten Kriterien bewirtschaftete Fläche (-10.000
Hektar), der Anteil verkaufter Bio-Lebensmittel an der Gesamtmenge sank um über
2 Prozent.
Obwohl sowohl in Deutschland als auch Österreich die der
Bio-Produktion ideologisch extrem nahestehende oder man könnte auch gleich
sagen „mit ihr auf das engste verwobene, wenn nicht gar verstrickte“
Grüne-Partei in der Regierung wichtige Ministerien in Bezug auf Agrar und
Ernährung besetzt, gibt es derzeit keinen Schub auf dem Biomarkt.
Zum Schluss über den Schluss hinausDie zunehmende Verlagerung des Einkaufs von Bio-Produkten
vom Fachhandel in die Discounter zeigt, dass Bio als Premium- und
Disktinktionsprojekte sowohl selber konventioneller und alltäglicher werden,
aber auch die Nische im Massenmarkt stabilisieren. Sie werden damit für
explizite Disktinktions- und Snobkäufer weniger interessant, sind dafür aber
Teil der nicht nur einen Sommer lang andauernden alimentären Alltagskultur.
Allerdings müssen sie und ihre ideologischen Protagonisten nun auch neuen
Fragen stellen, womit der monetäre Aufpreis und auch womit der mediale Rummel
um sie gerechtfertigt sind. Verbessert ihr Kauf wirklich die Welt? Schafft ihr
Konsum reale Fakten in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit? Ist eine
ökologische Landwirtschaft die bessere Landwirtschaft als die konventionelle
Landwirtschaft und wenn ja, für wen? Für die Natur? Für die Tiere? Für die
Landwirte? Für die Konsumenten?
Oder – und diese Frage ist keineswegs abgeräumt – ist der
Kauf von Bio-Produkten nur etwas, um das bürgerliche Konsumentengewissen in
einer – im vielleicht besten Fall – alles in allem moralisch völlig
indifferenten Gesellschaft mit ansonsten ausufernder Konsumkultur zu
befriedigen? Etwa: Okay, ich kaufe den Bio-Quark und dafür muss ich nicht
darüber nachdenken, wie mein alljährlich neu angeschafftes Smartphone
hergestellt wird.
Skeptisch werden schwankende Verbraucher machen, dass gerade
die Vertreter der Grünen Parteien, bei der überwiegenden Zahl der Landwirtinnen
und Landwirten einen gelinde gesagt „schweren Stand“ haben. Diejenigen, die
ganz praktisch die Produkte herstellen, die Tiere versorgen, die Felder
bestellen, die Höfe am Laufe halten, scheinen der politischen Agenda des
ökologischen Landbaus zu misstrauen oder sie für praxisferne Bürokraten zu
halten. Dass schadet der Idee des ökologischen Landbaus, wenn der Eindruck entsteht,
die Idee ist mit der realen Praxis und der in ihr arbeitenden Menschen gar
nicht kompatibel.
Interessant ist auch, dass es inzwischen Akteure gibt, die sich
der Idee einer ökologisch nachhaltigen Lebensmittelproduktion durchaus
authentisch verpflichtet sehen, aber zentrale Bausteine der gegenwärtigen
EU-Ökoverordnung und der traditionellen Ideologie des Bio-Kulturmilieus kritisch
sehen. Unter dem Label „Progressive Argrarwende“ hat sich ein Öko-Progressives-Netzwerk entwickelt. Dort positioniert man sich unter
Rückgriff auf seriöse, wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse für den Einsatz
von Neuen Genomischen Techniken und einen realistischen Einsatz von
Pflanzenschutzmitteln. Den Protagonisten dieser neuen agrarwissenschaftlichen
Bewegung, in der sich einige Protagonisten auch zu einem Verein
zusammengeschlossen haben, kann man kaum vorwerfen, ferngesteuerte und
hochbezahlte Agenten multinationaler Agrochemikonzerne oder was auch immer zu
sein. Im Gegenteil lassen sich hier authentische Diskursbeteiligungen
beobachten, die sehr stark auf die Kraft des wissenschaftlichen Arguments und
die Diskussion älterer und neuerer Hypothesen mit (fast allen) Beteiligten
setzen. Das wirkt neu und bringt auch frischen Wind in eine Ökoszene, die
zuletzt mit sehr wenig Diskursoffenheit und mit viel Pathos – mittels scheinbar
in Stein gemeißelter Regulierungen – auf Bundes- und EU-Ebene versucht hat,
auch nur partikulare Entwicklungen im Bereich hochmoderne Agrartechnologien zu
verhindern. Das wirkt angesichts der Veränderungen bei den Produktions- und
Vertriebsstrukturen von Bio-Produkten eher widersprüchlich.
Im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Weiterentwicklung alimentärer
Nachhaltigkeit wäre auch eine diskursive Weiterentwicklung der Bio-/Öko-Kultur
unter Einbeziehung aller Argumente, möglichst vieler Akteure und eine
perspektivische Ergebnisoffenheit eigentlich der Komplexität des Sachverhalts
dienlicher. Stagnation überwindet man nur selten durch Stagnation.
Weiterführende Quellen
https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/xxl-oekobetrieb-schluckt-anderen-oeko-riesen-zusammen-6100-ha-gross-616444?fbclid=IwAR1IJ_DySBpq_HtffoJmVx2vnSGWQ7Zbkg72lpWacUQnRACnRVxa4JmRzdE
https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/oekolandbau-14-landwirte-oekobauern-noch-luft-oben-616473
https://www.boelw.de/themen/zahlen-fakten/
https://www.dolomitenstadt.at/2024/02/15/rueckgang-auf-hohem-niveau-bio-boomt-nicht-mehr/
https://www.derstandard.de/story/3000000207064/biobetriebe-unter-druck-wir-bewegen-uns-in-einem-feindlichen-umfeld
https://progressive-agrarwende.org/
https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Landwirtschaftliche-Betriebe/_inhalt.html
https://www.welt.de/wirtschaft/article250075112/Bio-Lebensmittel-Der-ueberraschende-Verlierer-des-neuen-Booms.html