Dienstag, 19. Februar 2019

Soziologie der Welterschleckung (AS 02)

Es gibt diese eine Frage, bei der man in Erfahrung zu bringen versucht, "ob eine Person Geschmack hat". Dabei geht es dann darum, ob diese Person in der Lage ist, zu erkennen, was schön oder was ästhetisch ist und was es eben nicht ist. Da sich über Geschmack bekanntlich (nicht) streiten lässt, ist diese "Geschmackskompetenz" stets etwas, was Bezug nimmt auf eine Referenzkultur, in der bereits mehr oder weniger festgelegt ist, was ästhetisch ist und was nicht. Dabei ist durch interkulturelle und historische Vergleiche freilich längst allgemein bekannt, dass es sehr unterschiedliche Kulturen gibt, die sehr unterschiedliche Dinge für ästhetisch und andere für unästhetisch halten.

Eine Person, der man unterstellt, dass "sie Geschmack hat", schreibt man dann zu, dass sie sich in ihrer Referenzkultur gut auskennt, dass sie "die Regeln des guten Geschmacks" gelernt hat. Also zum Beispiel: Auf einer anständige Hochzeit gibt es Champagner oder Sekt zu trinken und eher selten Dosenbierstechen. Personen, denen man sagt, dass "sie keinen Geschmack haben", wird dagegen unterstellt, ihnen würden Dinge gut gefallen, die sich so nicht gehören.

Welchen Rang, welchen Status eine Person in einer sozialen Gruppe einnehmen kann, hat auch viel damit zu tun, ob ihr zugestanden wird, geschmackvoll zu handeln oder nicht und somit zu zeigen, dass sie die kulturellen Regeln der Kultur beherrscht. Aber Vorsicht: manchmal kann auch ein Punk, ein Rebell, sich gegen das kulturelle Geschmacksestablishment durchsetzen. Vielleicht sogar, weil er die alten Geschmacksroutinen gezielt durchbricht.

Geschmack kann man aber auch abseits von dieser Status- und Distinktionsfrage soziologisch analysieren. So kann man das Schmecken als einen reflexiven Vorgang beobachten. Dieser bringt den Schmeckenden und das zu Schmeckende gleichermaßen hervor und vermittelt eine gleichermaßen sinnlich-körperliche wie auch problematisch-diffuse Bindung der Menschen und ihrer Gesellschaft an die materielle Welt. Wir hören quasi nie damit auf, was Peter Kubelka mal - sinngemäß - als das Erschlecken der Welt in der Kindheit beschrieben hat: "Die Grundlage für die Welterkenntnis ist die Welterschleckung." Den Soziologen interessieren nun die sozialen Aspekte, die kulturellen Kontexte, von denen diese ganz praktische und konkrete Welterschleckung bestimmt ist. Mit all den Freuden, die sich beim wilden herumschlecken so ergeben können. Aber auch mit all den Schwierigkeiten, wenn man mal wieder irgendetwas erschlecken wollte, dass sich dann doch als eher bitteres (Geschmacks-)Erlebnis herausgestellt hat und das man dann erst einmal einordnen und verarbeiten muss.

Diese Perspektive gibt dem konkret Schmeckenden, demjenigen, der, wie wir alle in zahllosen Alltagssituationen ganz konkret isst und trinkt und dabei schmeckt, eine Anerkennung als (Mit-)Handelndem und Weltkonstrukteur, die er in der eingangs zuerst genannten Perspektive nicht so explizit besitzt, sondern in der er vor allem durch übergeordnete Strukturen in seinem Tun (in seinem Schmecken) bestimmt wird. 

Der Schmeckende wird nicht nur als Strukturen reproduzierender Essender, sondern auch als kreativer, teils gewitzter und gewiefter Essender beobachtet. Dieser Populärgourmet verfügt über so manche Kompetenz, um auch eine schwierige Situation in seinem Sinne noch zu einer gelungenen Situation zu machen.

Gegen allerlei Widrigkeiten und manchmal eben auch gegen die Regeln und fast schon unsichtbaren Routinen erschleckt er die Welt. Und wie die meisten wohl noch aus Kindertagen wissen: Was ange(sch)leckt ist, ist meins!


Source: pixabay.com


Literatur: Antoine Hennion (2005): Pragmatic of Taste. In: Jacbos u. Hanrahan (Hrsg.): The Blackwell Companion tothe Sociology of Culture. S.131-144.

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